20 Jahre Blaues Haus: Viele Gespräche in der Heimat

Was ist neu? Was bleibt? Im Garten des Blauen Hauses hängen an einer Installation von Gila Wiemer Keramikskulpturen verbunden mit Bändern. 24 kleine Zettel hängen an Wäscheklammern am „Wünschebaum“: eine kleine Zeichnung von der jüngsten Teilnehmerin der Begegnungswoche, der fünfjährigen Ella Silver, deren Ururgroßeltern im Blauen Haus lebten. Der zweitälteste Gast Ronia Beecher (87 Jahre) hofft auf „eine Welt mit weniger Hass“.

 

42 Gäste im Alter zwischen fünf und 92 Jahren sind inzwischen wieder abgereist in ihre Heimatländer: nach USA, Israel, England, Frankreich und in die Schweiz; alle Gäste haben Wurzeln in der jüdischen Gemeinde Breisach, die 300 Jahre lang am Fuß des Münsterbergs lebte.

 

Zum Auftakt versammelten sich die Gäste und Gastgeber:innen im Münster und hörten fasziniert Jens Peter Maintz zu, der – aus Berlin angereist – mit zwei Solosuiten von Johann Sebastian Bach auf die Begegnungen einstimmte. Bürgermeister Oliver Rein begrüßte die Gäste im Sitzungssaal des Gemeinderates.

 

MITEINANDER REDEN – unter dieser Überschrift standen 30 unterschiedlichste Begegnungen mit den Nachfahren in der zurückliegenden Woche. 14 Schüler:innengruppen trafen die Gäste meist in ihren Klassenzimmern von drei Breisacher Schulen. Valeska Wilczek hatte in wochenlanger Vorbereitung mit Lehrer:innen den Plan ausgearbeitet: geredet wurde sogar bei einem Kochworkshop – natürlich auf Englisch!

 

Das Kennenlernen und der Austausch der Familiengeschichten bewegte alle Teilnehmer:innen in den Gesprächsrunden im Garten der Gedenkstätte. „Hier ist ein Platz, wo zugehört wird und das ganz Persönliche zur Sprache kommt: wie konnte sich eine Familie aus Nazideutschland retten, wie konnte die Familie in der neuen Umgebung (im Fall von Henry Levi in Afrika) aufbauen und überleben, wer blieb zurück, wer wurde deportiert, wer ermordet?  Sprachen die Eltern nach dem Krieg mit ihren Kindern? Für einige der Gäste ist Breisach schon seit zwanzig Jahren ein wichtiger Bezugspunkt in ihrem Leben geworden, durch diese Woche wurde das Blaue Haus auch für alle, die zum ersten Mal teilnahmen, ein Stück Heimat“, erzählt Valeska Wilczek, einer der Organisatorinnen der Jubiläumswoche. Unterstützt wurde das Team des Blauen Hauses durch Florian Kemmelmeier, der die Gespräche moderierte.

 

Referenten reisten aus New York und Berlin an, um mit den Gästen über Vergangenheit und Gegenwart zu sprechen. Klaus Hillenbrand sprach über seine Erforschung des Schicksals von Karolina Cohn aus Frankfurt. Ihr Silberamulett war 2017 bei Grabungen an dem Ort gefunden worden, wo im Vernichtungslager Sobibor eine viertel Million Menschen ermordet worden waren. Karolina Cohn war eine Nichte von Kantor Michael Eisemann aus Breisach.

 

In Freiburg besuchte Familie Eisemann mit der Gruppe der Gäste gemeinsam das Grab von Michael Eisemann auf dem Jüdischen Friedhof in Freiburg. Sie nahmen an der Stolpersteinzeremonie für Ronia Beecher und ihre Eltern in der Innenstadt teil und informierten sich am Platz der Alten Synagoge über die konfliktreiche Installation des Gedenkbrunnens. Julia Wolrab nahm sie mit auf die Baustelle des NS-Dokuzentrums.

 

Zum ersten Mal seit dem 10. November 1938 verwandelte sich der Synagogenplatz in eine open-air Synagoge. Unter der Leitung des jungen Rabbiners Scott Kalmicoff (ein Nachfahre der Familie Grumbach aus Breisach) und Kantorin Marlena Taenzer (deren Mann aus der Burgheimer Familie stammt) wurde der Schabbat begrüßt. Die hebräische Sprache der Väter war in der ehemaligen Judengasse zu hören. Hier bildete sich eine kleine jüdische Gemeinschaft, die mit Tanz und Lachen ihr Leben und ihre Verbindung feierte mit Tanz und dem rituellen Kiddusch. Das Schabbatbrot (Berches, Challa) war im Backofen des Blauen Hauses gebacken worden.

 

„Unser starkes Team von ehrenamtlichen Helfer:innen hat dazu beigetragen, dass wir das geplante Programm in dieser Weise durchführen konnten“, so Wilczek. Am Sonntag während der Gedenkveranstaltung bauten sie auf dem Kupfertorplatz eine Tafel für 100 Gäste auf, einen Ort für ein gemeinsames „Picknick“. Das Buffet wurde von den Unterstützer:innen des Blauen Hauses gefüllt zum MITEINANDER REDEN. Als Überraschungsgeschenk brachte der Chor um Melinda Liebermann ein Ständchen. Es war der erste Auftritt der Sängerinnen und Sänger, die seit Anfang des Jahres jeden Dienstag im Blauen Haus proben.

 

Unterstützt wurde der Aufenthalt derjenigen, die vor 1945 geboren sind und den Holocaust überlebt haben durch die Stiftung Erinnerung Verantwortung Zukunft. Eine Förderung im Rahmen des Bundesprogramms „Miteinander reden“ in Höhe von 10.000 € hat zur Programmumsetzung und filmischen Dokumentation beigetragen.

 

Die fünfjährige Ella fühlte sich sichtlich wohl im Blauen Haus. „I am going to see Papi“ (ich geh mal zu Papi) rief sie zum Erstaunen ihrer Mutter Lauren Silver und Großmutter Michelle Stoneburn und stapfte die Treppen hinauf. Mit „Daddy“ meinte sie Ralph Eisemann, ihren Ururgroßvater, der als Sohn des letzten Kantors Michael Eisemann, im Hause „im Kreise einer glücklichen Familie“ aufgewachsen war. Er lacht im ersten Obergeschoss von einem überdimensionalen Foto.

Lauren Silver hatte, wie auch Nathan Uffenheimer, für die Gäste am Sonntag auf dem Synagogenplatz gesprochen.

 

Der Blick der Gäste ging zurück in die schreckliche Vergangenheit ihrer Familien und der Gemeinde, vor allem aber nach vorne. Es gibt viele gemeinsame Pläne: die gemeinsame Aufarbeitung und Erforschung der Briefsammlung. Dafür vertraute Bob Bahr die Originalbriefe seiner Familie dem Blauen Haus an. Jonathan Hollander aus New York (Battery Dance Company) – auf einem Zwischenstopp nach Nigeria in Breisach eingekehrt – denkt über eine Neuauflage der „Tänze für das Blaue Haus“ nach, zwanzig Jahre nach der unvergessenen Premiere. Das Programm hat er inzwischen in sechzig Länder rund um den Erdball getragen.

 

Alle Gäste fanden ihren Besuch, die erlebte Gemeinschaft und die freundliche Aufnahme äußerst wertvoll: sie möchten bei einem nächsten Mal wieder mit dabei sein.

 

 

Das Projekt wird von der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ) gefördert.

 

 

 

Fotos:
Andreas Nicolaus Vetrone, Valeska Wilczek und Gerard Zivy

Links zu den TV-Beiträgen von Baden TV Süd:

 

„Das Blaue Haus in Breisach besteht seit 20 Jahren“

 

 

 

und  „Das Blaue Haus in Breisach organisiert zum Bestehungs-Jubiläum eine Begegnungswoche“

 

 

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